
Vom Hörsaal ins digitale Zeitalter: Meine radiologische Lehrreise
Dies ist der erste Teil einer 8-teiligen Serie zur Zukunft der radiologischen Lehre im Medizinstudium. Heute teile ich meine persönliche Reise und die Erkenntnisse, die mich zu einer Leidenschaft für innovative Lehrmethoden in der Radiologie geführt haben.
LEHRE & WEITERBILDUNGPERSÖNLICHESZUKUNFT DER RADIOLOGIE
Prof. Dr. med. Bettina Baeßler
3/4/20255 min read
Es ist ein Nachmittag im Sommersemester 2006. Der Hörsaal ist abgedunkelt, die Projektion zeigt ein Schädel-MRT. Der Professor spricht monoton über T1-Relaxation, Gradienten und den k-Raum. Meine Kommilitonen kämpfen sichtbar mit der Müdigkeit. Ich selbst starre auf das Bild und denke: "Was sehe ich hier eigentlich? Und was hat das mit echten Patienten zu tun?"
Kennen Sie diese Situation aus Ihrer eigenen Studienzeit? Die Radiologie – eigentlich ein visuell faszinierendes, klinisch relevantes Fach – präsentiert als trockene Theorieveranstaltung ohne erkennbaren Patientenbezug? Genau diese Erfahrung prägte meine erste Begegnung mit dem Fach, das später meine berufliche Heimat werden sollte.
Der Schwur einer frustrierten Medizinstudentin
Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich nach einer besonders ernüchternden Radiologie-Vorlesung zu einer Kommilitonin sagte: "Wenn ich jemals unterrichte, werde ich es komplett anders machen." Ein naiver Schwur, geboren aus Frustration – aber einer, der mich bis heute antreibt.
Das Problem war nicht, dass der Stoff unwichtig gewesen wäre. Die physikalischen Grundlagen, die Technikkenntnisse – all das ist essenziell für unser Fach. Doch die Präsentation als losgelöste Theorie, ohne Verbindung zur klinischen Relevanz und ohne aktive Einbindung der Studierenden, nahm dem Fach jede Faszination.
"Radiologie lebt vom Sehen, vom Erkennen, vom aktiven Tun – nicht vom passiven Konsumieren theoretischer Konzepte."
Das Tragische: Die fehlende Begeisterung in der Lehre führte dazu, dass ich selbst lange Zeit die Radiologie nicht als potenzielle Fachrichtung in Betracht zog. So ging es vielen meiner Kommilitonen. Was für eine Verschwendung von Potenzial!
Die überraschende Wendung
Meine Einstellung zur Radiologie änderte sich erst während meines PJ in der Radiologie (das ich ehrlich gesagt nur machte, weil mein Cousin - seines Zeichens selber Radiologe - mir die Genialität dieses Faches immer wieder nahegelegt hatte und ich es nun doch “wissen” wollte). Ein junger Oberarzt nahm sich Zeit, setzte mich vor die Befundungs-Workstation und sagte etwas, das meine Perspektive für immer veränderte:
"Vergiss erstmal die Theorie. Schau dir das Bild an. Was siehst du? Beschreib es mir, als würdest du einem blinden Menschen erklären, was du vor dir siehst."
Dieser einfache Ansatz – das aktive Sehen und Beschreiben vor der Interpretation – war eine Offenbarung. Plötzlich wurde die Radiologie von einer abstrakten Wissenschaft zu einer fassbaren, praktischen Fähigkeit. Zu einer Kunstform des genauen Hinschauens.
In den folgenden Wochen lernte ich mehr über radiologische Befundung als in allen Vorlesungen zuvor. Nicht weil der Oberarzt ein besserer Mediziner war als meine Professoren, sondern weil seine Lehrmethode aktivierend war, auf Praxis basierte und mich zum eigenständigen Denken zwang.
Die Erkenntnis
Jahre später, als ich selbst in die Position kam, Studierende zu unterrichten, erinnerte ich mich an diesen Moment – und an meinen Schwur. Was hatte dieser eine Oberarzt anders gemacht als die zahllosen anderen Lehrenden?
Die Antwort ist ebenso simpel wie tiefgreifend:
Er machte mich zur aktiven Teilnehmerin statt zur passiven Zuhörerin
Er begann mit dem Sehen und Beschreiben, nicht mit der Theorie
Er stellte die klinische Relevanz in den Mittelpunkt
Er ermutigte zum eigenständigen Denken und tolerierte Fehler
Diese vier Prinzipien wurden später zum Fundament meines eigenen Lehrkonzepts. Nicht revolutionär in ihrer Formulierung, aber revolutionär in ihrer konsequenten Anwendung in der radiologischen Lehre.
Die Herausforderung der traditionellen Lehre
Was ich im Laufe meiner Karriere zunehmend erkannte: Das Problem der radiologischen Lehre ist nicht mangelndes Wissen oder fehlendes Engagement der Lehrenden. Das Problem ist ein strukturelles und methodisches.
Die traditionelle Struktur des Medizinstudiums und die klassischen Lehrmethoden in der Radiologie passen schlicht nicht optimal zum Lerngegenstand:
Große Hörsäle statt kleiner, interaktiver Gruppen
Passive Wissensvermittlung statt aktiver Fallbearbeitung
Techniklastigkeit statt klinischer Integration
Geringe Falldichte statt hoher Repetition
Starre Zeitfenster statt flexibler Lernmöglichkeiten
Diese Struktur ist nicht nur suboptimal für den Lernerfolg – sie trägt auch maßgeblich dazu bei, dass die Radiologie von vielen Studierenden als unattraktives Fach wahrgenommen wird. Ein Fach ohne direkten Patientenkontakt, dominiert von technischen Details und abstrakten Konzepten.
Welch ein Zerrbild der klinischen Realität! In Wirklichkeit ist die Radiologie ein hochdynamisches, intellektuell herausforderndes Fach mit enormer klinischer Bedeutung und ständigem interdisziplinären Austausch.
Die größte Chance ist auch die größte Herausforderung
Die besondere Herausforderung der Radiologie liegt genau in dem, was auch ihr größtes Potenzial ist: Sie ist ein Querschnittsfach, das in praktisch alle medizinischen Bereiche hineinreicht.
Diese Querschnittsfunktion ist einerseits unsere größte Stärke – wir sind überall relevant. Andererseits macht sie es schwierig, die Radiologie als eigenständiges Fach mit klarem Profil im Studium zu positionieren. Die Folge: Wir werden oft auf technische Aspekte reduziert, während die eigentlich spannende klinisch-radiologische Integration anderen Fächern überlassen wird.
So sehen Studierende das Thorax-CT nicht primär als wichtiges radiologisches Werkzeug zur Differentialdiagnostik der atypischen Pneumonie, sondern als "das, was die Internisten anfordern, wenn sie sich bei einem immunsupprimierten Patienten unsicher sind". Die Abdomen-Sonographie wird zum "Werkzeug der Inneren" (worüber vermutlich viele Radiolog:innen auch gar nicht traurig sind), die Interventionelle Radiologie zum "Handwerk der Gefäßchirurgen".
Dieses Missverständnis unserer Rolle beginnt in der Lehre – und kann nur durch eine fundamentale Neugestaltung der radiologischen Lehre korrigiert werden.
Der Funke springt über
Die Erkenntnis, dass Radiologie anders, besser gelehrt werden kann, war für mich persönlich ein Erweckungserlebnis. Ich wollte nicht länger Teil des Problems sein, sondern Teil der Lösung.
Als ich meine ersten eigenen Lehrveranstaltungen konzipierte, stellte ich mir immer wieder die Frage: "Wie hätte ich es mir als Studentin gewünscht?" Die Antwort führte mich zu einem radikal anderen Ansatz, den ich später an der Universität Köln systematisch ausbauen durfte.
Doch der Weg dorthin war nicht geradlinig. Er war geprägt von Experimenten, von Rückschlägen, von kleinen und großen Erfolgen – und vor allem von den Rückmeldungen der Studierenden, die mir halfen, mein Konzept stetig zu verfeinern.
Diese Reise zu einer neuen Form der radiologischen Lehre wird im zweiten Teil dieser Serie fortgesetzt, wo ich das "Kölner Modell" und seine Wirkung auf die Studierenden vorstellen werde.
Was diese Serie Ihnen bietet
In den kommenden sieben Artikeln nehme ich Sie mit auf eine Reise durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der radiologischen Lehre:
Wie ich das Lehrkonzept an der Uni Köln revolutionierte
Warum die Pandemie eine Chance für die digitale Transformation bot
Welche existenziellen Bedrohungen die neue Approbationsordnung für unser Fach birgt
Warum viele radiologische Abteilungen das Potenzial moderner Lehre nicht erkennen
Wie aktives Lernen am Fall die Radiologie transformieren kann
Wie externe Lernplattformen und lokale Lehrambitionen harmonieren können
Wie jede radiologische Abteilung zum "Leuchtturm der Lehre" werden kann
Mein Ziel ist nicht, die eine perfekte Lösung zu präsentieren – sondern einen Dialog anzustoßen. Einen Dialog darüber, wie wir gemeinsam die Zukunft unseres Fachs durch exzellente, moderne Lehre sichern können.
Denn bei allen methodischen und strukturellen Diskussionen sollten wir eines nicht vergessen: Die Begeisterung für unser Fach ist unser wertvollstes Gut. Und nichts ist ansteckender als echte Begeisterung, die wir in unserer Lehre vermitteln können.
"Zeigen Sie den Studierenden nicht nur, was die Radiologie kann – sondern lassen Sie sie es selbst erleben."
Im nächsten Teil unserer Serie berichte ich, wie das radiologische Lehrkonzept an der Universität Köln grundlegend umgestaltet wurde und welche überraschenden Erkenntnisse diese “Revolution” mit sich brachte.
Über die Autorin: Prof. Dr. med. Bettina Baeßler ist Radiologin, Ärztliche Leiterin der Region Bayern Nord bei Quartz Healthcare Germany, Professorin und Gründerin der LernRad GmbH, einer Online-Lernplattform für die Radiologie. Durch ihre langjährige Tätigkeit in verschiedenen universitären und klinischen Einrichtungen kennt sie die Herausforderungen der radiologischen Lehre aus erster Hand.