
Revolution im Hörsaal: Wie ich die radiologische Lehre an der Uniklinik Köln umkrempelte
Dies ist der zweite Teil meiner 8-teiligen Serie zur Zukunft der radiologischen Lehre im Medizinstudium. Im ersten Teil habe ich über meine persönlichen Erfahrungen als Medizinstudentin berichtet und warum ich mir schwor, die Radiologie-Lehre eines Tages zu revolutionieren. Heute berichte ich, wie dieser Schwur an der Uniklinik Köln tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde.
LEHRE & WEITERBILDUNGPERSÖNLICHES
Prof. Dr. med. Bettina Baeßler
3/18/20255 min read


"Kann sich jemand von Ihnen vorstellen, Radiologin oder Radiologe zu werden?"
Mit dieser Frage begann ich meine erste Vorlesung (ein PJ-Repetitorium, das ich von meinem Chef übernommen hatte) an der Uniklinik Köln. Von 150 Studierenden im Hörsaal hoben genau drei die Hand. Drei. Das waren keine 5%.
Ein Jahr später stellte ich dieselbe Frage erneut. Diesmal gingen über 40 Hände nach oben. Was war passiert?
Der Auftrag: Eine Chance zur Veränderung
Als ich die Möglichkeit bekam, das radiologische Lehrkonzept an der Uniklinik Köln mit Hilfe von Fördermitteln komplett zu überarbeiten, war ich gleichzeitig begeistert und eingeschüchtert. Begeistert, weil ich endlich die Chance hatte, meinen Schwur aus Studienzeiten einzulösen. Eingeschüchtert, weil die Herausforderung enorm war.
Die bestehende Lehre folgte einem klassischen Muster: Theorielastige Vorlesungen, wenig Interaktion, kaum klinischer Bezug. Die Evaluationen waren entsprechend. "Einschläfernd", "praxisfern" und "irrelevant" waren noch die höflicheren Kommentare.
Mein Ziel war klar: Die Radiologie sollte von einem unbeliebten Pflichtfach zu einem Highlight im Medizinstudium werden. Nicht durch Entertainertum oder Anbiederung, sondern durch echte inhaltliche und methodische Qualität.
Das Kölner Modell: YouTube trifft auf Hörsaal
Was folgte, war keine vorsichtige Reform, sondern ein radikaler Neuanfang. Das Herzstück des neuen Konzepts war etwas, das heute als "Flipped Classroom" bekannt ist, damals aber noch revolutionär wirkte:
Vorbereitung zu Hause: Kurze, prägnante YouTube-Videos vermittelten das Grundlagenwissen vor der Vorlesung
Aktive Anwendung im Hörsaal: In der Präsenzzeit wurde dieses Wissen durch interaktive Quizzes und die Anwendung auf echte klinische Fälle gezielt vertieft
Digitale Nachbereitung: Aufgezeichnete Vorlesungen und ergänzende Materialien für die individuelle Wiederholung
Das klingt heute fast selbstverständlich, war damals (wir sprechen hier über die letzten Jahre VOR der Pandemie…) aber ein fundamentaler Bruch mit der universitären Tradition. Besonders der Einsatz von YouTube als Lehrmedium stieß anfangs durchaus auf Skepsis bei Kollegen: "Das ist doch kein seriöses akademisches Format!"
Die Studierenden sahen das anders. Die Abrufzahlen explodierten, die Vorbereitungsquote lag bei über 80% – ein Wert, von dem klassische Lehrbuchempfehlungen nur träumen können. Heute hat derselbe YouTube Kanal > 15.000 Abonnenten und ist in ganz Deutschland ein beliebtes Lehrmedium für angehende Radiolog:innen.
"Die besten Lehrmethoden sind nicht die traditionellsten, sondern die effektivsten. Format folgt Funktion, nicht Konvention."
Der Laserpointer-Moment
Der vielleicht prägendste Moment dieser Lehrrevolution hatte mit einem simplen Laserpointer zu tun. In meinem PJ-Repetitorium zum Thema “Röntgen Thorax” entschied ich spontan, den roten Punkt nicht selbst über die Bilder wandern zu lassen, sondern gab den Pointer an die Studierenden weiter.
"Beschreiben Sie, was Sie sehen. Systematisch, so wie ich es Ihnen gerade beigebracht habe."
Anfangs herrschte Stille. Dann Nervosität. Dann – Begeisterung. Plötzlich war jeder konzentriert, wollte an die Reihe kommen, wollte zeigen, dass er oder sie die Strukturen erkennen und benennen konnte.
Aus einer passiven Frontalsituation wurde ein gemeinsames Entdecken. Der Laserpointer wanderte durch den ganzen Hörsaal. Studierende korrigierten sich gegenseitig, diskutierten, fragten nach. Die Vorlesung ging weit über die geplante Zeit hinaus – und niemand ging vorzeitig.
Dieser "Laserpointer-Moment" wurde zum Symbol für alles, was ich über Lehre gelernt hatte: Die einfachsten Interaktionen sind oft die wirksamsten. Aktivierung schlägt Präsentation. Und die Freude am gemeinsamen Entdecken ist mächtiger als die perfekteste PowerPoint-Präsentation.
Die digitale Dimension
Die YouTube-Videos waren nur der Anfang der digitalen Transformation. Als nächster Schritt folgten weitere Schritte in ein zunehmen hybrides Konzept:
Interaktiven Fallsammlungen zum selbständigen Üben und zur Verwendung während der Blockseminare
Interaktive Videos mit eingebetteten Quiz-Fragen
Ein von der Nordamerikanischen Röntgengesellschaft (RSNA) speziell für die Radiologie entwickeltes Quiz-Tool für die Vorlesungen, das eine direkte Interaktion mit dem radiologischen Bild ermöglichte und wo die Studierenden in zwei Gruppen gegeneinander antreten konnten. Leider hat die RSNA dieses Tool inzwischen eingestellt - aber es gibt gute Alternativen!
Diese digitalen Werkzeuge ergänzten die Präsenzlehre, ohne sie zu ersetzen. Sie schufen jene Flexibilität und individuelle Lerngeschwindigkeit, die im starren universitären Zeitplan sonst unmöglich gewesen wäre.
Die überraschenden Ergebnisse
Die Ergebnisse der Kölner Lehrrevolution übertrafen selbst meine optimistischsten Erwartungen:
Die Evaluationen verbesserten sich wesentlich
Die Anwesenheit in den Präsenzveranstaltungen stieg trotz digitaler Alternativen
Das Interesse am Fach Radiologie als Berufsoption vervielfachte sich
Besonders der letzte Punkt war für mich der bewegendste. Wenn aus drei potenziellen Radiologie-Interessierten plötzlich über vierzig werden, dann hat man nicht nur die Lehre verbessert – dann hat man die Zukunft eines Fachs beeinflusst. Zumindest im Kleinen.
Was mich aber am meisten überraschte, waren nicht die quantitativen Ergebnisse, sondern die qualitativen Rückmeldungen. Studierende berichteten nicht nur von besserem Lernerfolg, sondern von einer fundamentalen Veränderung ihrer Wahrnehmung:
"Ich sehe jetzt Röntgenbilder und CT-Scans anders. Nicht mehr als bedrohliche schwarzweiße Rätsel, sondern als faszinierende visuelle Puzzles, die ich systematisch entschlüsseln kann." Die vielen Gespräche mit Studierenden nach den Vorlesungen und die vielen interessierten Fragen, die sie stellten, waren ebenfalls ein Zeichen, dass ihr Interesse geweckt war.
Die Wissenschaft hinter dem Erfolg
Der Erfolg des Kölner Modells war kein Zufall. Er basierte auf wissenschaftlich fundierten Lernprinzipien:
Aktives Lernen statt passiver Konsumption
Das Gehirn behält Information besser, wenn es sie aktiv verarbeitet und anwendet.
Spaced Repetition
Die Wiederholung von Lerninhalten in optimalen Zeitabständen fördert die langfristige Speicherung.
Multimodale Präsentation
Die Kombination aus visuellen, auditiven und interaktiven Elementen spricht verschiedene Lerntypen an.
Feedback-Schleifen
Unmittelbares Feedback ermöglicht kontinuierliche Anpassung und Verbesserung.
Relevanz und Kontextualisierung
Inhalte, die in einem klinisch relevanten Kontext präsentiert werden, werden besser verstanden und erinnert.
Diese Prinzipien sind nicht neu – neu war ihre konsequente Anwendung in der radiologischen Lehre, einem Fach, das traditionell stark von Frontalunterricht und passiver Wissensvermittlung geprägt war.
Die Umsetzung dieser Prinzipien in Köln war lediglich ein Anfang für mich - denn noch scheiterten viele meine Ideen und Visionen an der technischen Machbarkeit. Dies säte den Samen für das, was ein paar Jahre später einmal die LernRad GmbH werden sollte. Aber dazu demnächst mehr. 😊
Die Lehren für andere Fakultäten
Was können andere radiologische Abteilungen aus dem Kölner Modell lernen? Fünf zentrale Erkenntnisse haben sich herauskristallisiert:
Mut zur radikalen Innovation
Halbe Reformen bringen halbe Ergebnisse. Manchmal braucht es einen kompletten Neuanfang.
Digitale Werkzeuge als Ergänzung, nicht als Ersatz
Die Technologie dient der Didaktik, nicht umgekehrt.
Aktivierung als oberstes Prinzip
Jede noch so kleine Interaktion ist wertvoller als perfekte Präsentation.
Systematik vermitteln, nicht nur Fakten
Die Methode der radiologischen Befundung ist wichtiger als isoliertes Faktenwissen.
Das Warum vor dem Was und Wie
Die klinische Relevanz muss immer im Mittelpunkt stehen.
Das Vermächtnis
Als ich die Universität Köln nach einigen Jahren verließ, hinterließ ich ein Lehrkonzept, das auch ohne mich weiterleben konnte. Die Strukturen, die digitalen Ressourcen, die didaktischen Prinzipien – sie alle waren so gestaltet, dass sie auch von anderen Lehrenden weitergeführt werden konnten.
Das ist vielleicht das wichtigste Merkmal wirklich guter Lehre: Sie ist nicht an eine charismatische Einzelperson gebunden, sondern an durchdachte Strukturen und übertragbare Methoden.
Die Videos, die ich damals produzierte, werden noch heute in der Lehre eingesetzt – fast ein Jahrzehnt später. Nicht nur in Köln, sondern deutschlandweit. Nicht weil sie technisch nicht überholt werden könnten, sondern weil das didaktische Konzept dahinter zeitlos ist.
"Gute Lehre ist wie ein gut konstruiertes Gebäude: Sie überdauert ihre Erbauer und dient noch Generationen danach."
Der nächste Schritt
Die Kölner Lehrrevolution war für mich ein Beweis, dass die radiologische Lehre fundamental anders gestaltet werden kann – mit beeindruckenden Ergebnissen für Studierende und für das Fach selbst.
Doch sie war nur der Anfang einer Reise. Eine Reise, die durch die COVID-19-Pandemie eine unerwartete Wendung nehmen sollte, wie ich im nächsten Teil dieser Serie berichten werde.
Denn wenn ich eines aus der Kölner Zeit mitgenommen habe, dann dies: Innovation in der Lehre ist kein einmaliger Akt, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Ein Prozess, der durch externe Ereignisse wie eine globale Pandemie sowohl herausgefordert als auch beschleunigt werden kann.
Im nächsten Teil unserer Serie berichte ich, wie die COVID-19-Pandemie die radiologische Lehre über Nacht veränderte – und warum wir nicht zur alten Normalität zurückkehren sollten.
Über die Autorin: Prof. Dr. med. Bettina Baeßler ist Radiologin, Ärztliche Leiterin der Region Bayern Nord bei Quartz Healthcare Germany, Professorin und Gründerin der LernRad GmbH, einer Online-Lernplattform für die Radiologie. Durch ihre langjährige Tätigkeit in verschiedenen universitären und klinischen Einrichtungen kennt sie die Herausforderungen der radiologischen Lehre aus erster Hand.