Die unsichtbare Gefahr: Wie NKLM und neue Approbationsordnung unser Fach bedrohen

Heute geht es um eine existenzielle Bedrohung für unser Fach, die sich leise, aber stetig durch Reformen des Medizinstudiums (unter anderem des NKLM) manifestiert.

LEHRE & WEITERBILDUNGZUKUNFT DER RADIOLOGIE

Prof. Dr. med. Bettina Baeßler

4/15/20256 min read

man wearing black pullover hoodie sitting on the high-top rock
man wearing black pullover hoodie sitting on the high-top rock

"Wo ist eigentlich die Radiologie in der neuen Approbationsordnung?"

Diese Frage stellte mir ein besorgter Kollege während einer Sitzung zur Implementierung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM). Die Antwort, die ich ihm geben musste, war ernüchternd: "Überall und nirgends zugleich."

Als aktives Mitglied der NKLM-Entwicklung und Sprecherin der Projektgruppe "Digitale Kompetenzen" hatte ich einen Insider-Blick auf die Prozesse, die unser Medizinstudium in den kommenden Jahren fundamental verändern werden. Und was ich dort beobachten konnte, bereitet mir große Sorge für die Zukunft unseres Fachs.

Die schleichende Marginalisierung

Die Geschichte der Marginalisierung der Radiologie in der medizinischen Ausbildung ist keine dramatische Revolution, sondern eine schleichende Evolution. Sie vollzieht sich in kleinen, einzeln betrachtet harmlosen Schritten, deren kumulative Wirkung jedoch verheerend sein kann.

Der Schlüssel zum Verständnis liegt im Begriff "Querschnittsfach". Als Radiologie sind wir stolz darauf, ein Querschnittsfach zu sein, das praktisch alle klinischen Disziplinen berührt. Diese Allgegenwärtigkeit ist unsere Stärke in der klinischen Praxis – und unsere größte Schwäche im reformierten Curriculum.

Denn im kompetenzorientierten, zunehmend integrierten Medizinstudium werden unsere Inhalte nicht mehr primär durch uns selbst, sondern durch andere Fächer vermittelt:

  • Der Internist erklärt die Thorax-Röntgen-Befundung

  • Der Neurologe lehrt die Interpretation der Schädel-CT

  • Der Orthopäde führt in die Grundlagen der MSK-MRT ein

  • Der Urologe demonstriert die Sonographie der Nieren

Jedes dieser Fächer beansprucht "seine" Bildgebung als integralen Bestandteil der eigenen Disziplin. Zurück bleibt eine fragmentierte Radiologie ohne eigenes Profil, reduziert auf technische Aspekte oder seltene Spezialfälle.

"Die größte Gefahr für die Radiologie ist nicht die künstliche Intelligenz – es ist die Unsichtbarkeit in der Ausbildung."

Der NKLM-Prozess: Ein Insider-Bericht

Als ich mich entschloss, aktiv an der Entwicklung des NKLM mitzuwirken, tat ich dies aus Überzeugung. Ein kompetenzbasierter, nationaler Lernzielkatalog schien der richtige Weg, um die medizinische Ausbildung zu modernisieren und zu harmonisieren.

Doch im Laufe des Prozesses wurde mir klar, dass die Art der Kategorisierung und Strukturierung fundamentale Auswirkungen auf die Gewichtung und Sichtbarkeit einzelner Fächer hat. Und diese Strukturierung begünstigt systematisch die großen klinischen Disziplinen, während sie Querschnittsfächer wie die Radiologie in den Hintergrund drängt.

Ein konkretes Beispiel: Bei der Zuordnung von Kompetenzen im Bereich der Bildinterpretation stellte sich stets die Frage, ob diese primär dem jeweiligen klinischen Fach oder der Radiologie zuzuordnen seien. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wurde für das klinische Fach entschieden – mit der Begründung, Bildinterpretation sei untrennbar mit der klinischen Entscheidungsfindung verbunden.

So wurden radiologische Kernkompetenzen zu "untergeordneten" Teilaspekten klinischer Fächer degradiert. Eine subtile, aber weitreichende Verschiebung mit konkreten Folgen für die curriculare Realität.

Die konkrete Bedrohung

Warum ist diese Entwicklung so bedrohlich für unser Fach? Die Antwort liegt in einem simplen, aber mächtigen Zusammenhang: Was in der Ausbildung nicht als eigenständiges Fach wahrgenommen wird, wird später kaum als attraktive Karriereoption in Betracht gezogen.

Die konkreten Folgen zeichnen sich bereits ab:

  1. Reduzierte Sichtbarkeit der Radiologie als Fach

    Studierende nehmen die Radiologie nicht mehr als eigenständige Disziplin mit spezifischem Kompetenzprofil wahr.

  2. Verlust der Deutungshoheit über Bildinterpretation

    Die radiologische Expertise wird zunehmend als "Nice-to-have" statt als essenziell betrachtet.

  3. Verminderte Nachwuchsgewinnung

    Ohne Sichtbarkeit im Studium sinkt das Interesse an der Radiologie als Weiterbildungsfach.

  4. Fragmentierung des radiologischen Wissens

    Die systematische, fachübergreifende Herangehensweise geht verloren.

  5. Gefährdung der Qualität

    Wenn jedes Fach "seine" Bildgebung selbst lehrt, leidet die Standardisierung und methodische Tiefe.

Diese Entwicklung vollzieht sich nicht über Nacht, sondern über Jahre und Jahrzehnte. Doch wenn wir jetzt nicht gegensteuern, könnten wir in einer Zukunft erwachen, in der die Radiologie als eigenständiges Fach marginalisiert oder gar in Frage gestellt wird.

Die politische Dimension

Es wäre naiv zu glauben, dass die Gestaltung von Ausbildungsordnungen und Lernzielkatalogen ein rein wissenschaftlicher, evidenzbasierter Prozess ist. In Wirklichkeit spielen auch politische Interessen, Machtverhältnisse und historisch gewachsene Strukturen eine entscheidende Rolle.

Die großen klinischen Fächer verfügen traditionell über mehr Einfluss in akademischen Gremien, mehr Lehrstühle, mehr Ressourcen – und damit auch mehr Gewicht bei der Gestaltung von Reformen. Dies ist keine böswillige Verschwörung, sondern ein struktureller Effekt, der zu einer systematischen Unterrepräsentation kleiner und querschnittlicher Fächer führt.

Als ich aufgrund gesundheitlicher Probleme mein Engagement in diesen Gremien reduzieren musste, erlebte ich hautnah, wie schnell die Interessen unseres Fachs aus dem Fokus geraten können, wenn nicht aktiv und kontinuierlich dafür eingetreten wird.

Diese Erfahrung hat mich gelehrt: Wir müssen als Radiologinnen und Radiologen politischer denken und handeln. Es reicht nicht, exzellente klinische Arbeit zu leisten und wissenschaftlich zu publizieren. Wir müssen aktiv für die Sichtbarkeit und Eigenständigkeit unseres Fachs in der Ausbildung kämpfen – auf allen Ebenen.

Die Konsequenzen für die Praxis

Was bedeutet diese Entwicklung konkret für die radiologische Lehre an den Universitäten?

Zunächst einmal wird sie fragmentierter. Statt eines kohärenten radiologischen Curriculums werden wir zunehmend mit der Situation konfrontiert sein, dass unsere Lehrinhalte auf verschiedene Module und Veranstaltungen verteilt sind, oft unter der Führung anderer Fächer.

Diese Fragmentierung erschwert den systematischen Kompetenzaufbau. Statt einer durchdachten Progression von grundlegenden zu fortgeschrittenen radiologischen Fähigkeiten entsteht ein Flickenteppich isolierter Fertigkeiten, der die methodische Tiefe und Kohärenz vermissen lässt.

Gleichzeitig werden wir mit reduzierten Ressourcen konfrontiert sein. Wenn radiologische Inhalte nicht mehr primär durch radiologische Abteilungen vermittelt werden, stellt sich die Frage: Warum überhaupt noch Lehrdeputate für die Radiologie vorsehen?

Diese Ressourcenverschiebung ist nicht nur ein akademisches Problem. Sie hat direkte Auswirkungen auf unsere Fähigkeit, qualifizierten Nachwuchs zu rekrutieren und die Qualität der radiologischen Ausbildung zu sichern.

Der Weg nach vorn

Trotz dieser herausfordernden Entwicklungen sehe ich keinen Grund zur Resignation. Im Gegenteil: Die existenzielle Bedrohung sollte uns als Fach motivieren, aktiver und strategischer für unsere Sichtbarkeit im Medizinstudium einzutreten.

Konkret bedeutet das:

  1. Politisches Engagement verstärken

    Wir müssen aktiver in Gremien, Kommissionen und Arbeitsgruppen zur Studienreform vertreten sein.

  2. Qualität durch Exzellenz sichtbar machen

    Herausragende Lehre ist der beste Weg, Präsenz und Relevanz zu demonstrieren.

  3. Allianzen bilden

    Gemeinsame Interessen mit anderen Querschnittsfächern identifizieren und strategische Partnerschaften aufbauen.

  4. Unique Selling Points definieren

    Klar kommunizieren, was nur die Radiologie bieten kann – methodisch, didaktisch, inhaltlich.

  5. Multimodales Lehrangebot entwickeln

    Durch innovative Formate und Modalitäten die Sichtbarkeit erhöhen und verschiedene Lerntypen ansprechen.

Ich bin überzeugt: Wenn wir unsere Energie auf diese Punkte fokussieren, können wir den Trend zur Marginalisierung nicht nur stoppen, sondern umkehren. Wir können die Radiologie als eigenständiges, methodisch anspruchsvolles und klinisch unverzichtbares Fach im Bewusstsein der Studierenden verankern.

Die Chance im Wandel

Jede Bedrohung birgt auch eine Chance – und die aktuellen Umwälzungen im Medizinstudium bilden keine Ausnahme. Der Zwang zur Neupositionierung bietet uns die Gelegenheit, unser Selbstverständnis als Fach zu schärfen und zu modernisieren.

Die zentrale Frage lautet: Was macht die Radiologie einzigartig? Was können wir Studierenden bieten, das sie in keinem anderen Fach finden?

Ich sehe hier mehrere Antworten:

  1. Die systematische, methodenorientierte Herangehensweise

    Radiologie lehrt strukturiertes Denken und Befunden über Organgrenzen hinweg.

  2. Die Integrationsfunktion zwischen Klinik und Bildgebung

    Radiologie ist die Brücke zwischen anatomischer Darstellung und klinischer Bedeutung.

  3. Die technologische Avantgarde

    Kaum ein anderes Fach vereint medizinisches Wissen und technologische Innovation so eng.

  4. Die interdisziplinäre Scharnierfunktion

    Radiologie ist der natürliche Knotenpunkt zwischen praktisch allen klinischen Disziplinen.

Diese Alleinstellungsmerkmale müssen wir bewusster und selbstbewusster kommunizieren – gegenüber Studierenden, Kolleginnen und Kollegen anderer Fächer und den Entscheidungsträgern in der Hochschulpolitik.

Ein persönliches Fazit

Als ich vor einigen Jahren begann, mich intensiv mit der Entwicklung des NKLM zu befassen, ahnte ich nicht, welche existenziellen Fragen sich für unser Fach aus dieser scheinbar technischen Reform ergeben würden. Heute ist mir klar: Die Zukunft der Radiologie entscheidet sich nicht nur in Forschungslaboren und klinischen Abteilungen, sondern auch – vielleicht sogar primär – in den Hörsälen und Curricula unserer medizinischen Fakultäten.

Wer in der Ausbildung nicht sichtbar ist, wird in der Berufswahl nicht gewählt. Wer in der Lehre nicht präsent ist, verliert die Deutungshoheit über sein Fachgebiet. Wer im Curriculum marginalisiert wird, kämpft langfristig um sein professionelles Überleben.

Daher mein dringender Appell an alle, die unser Fach lieben und seine Zukunft sichern wollen: Engagieren Sie sich in der Lehre! Nicht als lästige Pflicht neben dem "eigentlichen" klinischen Alltag, sondern als strategische Investition in die Zukunft unseres Fachs.

"Die Studierenden von heute sind die Entscheider von morgen – und nur wer sie für die Radiologie begeistert, sichert das Fortbestehen unseres Fachs."

Die Bedrohung durch NKLM und neue Approbationsordnung ist real – aber nicht unabwendbar. Wenn wir jetzt handeln, können wir nicht nur unser Fach schützen, sondern es gestärkt und zukunftsfähig aus dieser Umbruchphase herausführen.

Im nächsten Teil unserer Serie beleuchte ich den "blinden Fleck" vieler universitärer Abteilungen: Warum das Potenzial digitaler Lehre oft nicht erkannt wird – und welche strukturellen und finanziellen Hindernisse überwunden werden müssen.

Über die Autorin: Prof. Dr. med. Bettina Baeßler ist Radiologin, Ärztliche Leiterin der Region Bayern Nord bei Quartz Healthcare Germany, Professorin und Gründerin der LernRad GmbH, einer Online-Lernplattform für die Radiologie. Durch ihre langjährige Tätigkeit in verschiedenen universitären und klinischen Einrichtungen kennt sie die Herausforderungen der radiologischen Lehre aus erster Hand.