
Die Pandemie als Wendepunkt: Warum wir nicht zur alten Normalität zurückkehren sollten
Dies ist der dritte Teil unserer 8-teiligen Serie zur Zukunft der radiologischen Lehre im Medizinstudium. In den ersten beiden Teilen habe ich über meine persönlichen Erfahrungen und die Revolution der radiologischen Lehre an der Uni Köln berichtet. Heute geht es um die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die medizinische Ausbildung – und warum ein Zurück zur alten Normalität ein fataler Fehler wäre.
LEHRE & WEITERBILDUNGZUKUNFT DER RADIOLOGIE
Prof. Dr. med. Bettina Baeßler
4/1/20255 min read
"Ab morgen findet die Lehre ausschließlich digital statt."
Diese Nachricht erreichte im März 2020 praktisch alle medizinischen Fakultäten weltweit. Über Nacht wurde die Präsenzlehre – der unangefochtene Goldstandard der medizinischen Ausbildung seit Jahrhunderten – unmöglich.
Was folgte, war ein beispielloses Experiment. Ein Experiment, das uns viel über die Stärken und Schwächen unserer Lehrsysteme verraten hat. Und ein Experiment, dessen Erkenntnisse wir nicht leichtfertig ignorieren sollten, nur weil die akute Notwendigkeit vorüber ist.
Der große Sprung ins digitale Wasser
Als die Pandemie begann, befand sich die radiologische Lehre in einem interessanten Spannungsfeld: Einerseits arbeitet unser Fach seit Jahrzehnten mit digitalen Bildern und Systemen. Andererseits war die Lehre selbst noch stark von traditionellen, präsenzbasierten Formaten geprägt.
Die ersten Wochen der Pandemie waren chaotisch. Vorlesungsaufzeichnungen, hastig zusammengestellte PDFs, improvisierte Zoom-Sessions. Die Qualität war durchwachsen, die Konzepte oft nicht zu Ende gedacht. Aber etwas Bemerkenswertes geschah: Die Radiologie als bildbasiertes Fach hatte plötzlich einen natürlichen Vorteil.
Während andere Fächer mit der digitalen Vermittlung praktischer Fertigkeiten kämpften, konnten wir unsere Kernkompetenz – das systematische Betrachten und Interpretieren von Bildern – verhältnismäßig gut in den digitalen Raum übertragen.
CoRad19: Eine Antwort auf die Krise
In dieser Situation entstand CoRad19, ein Projekt, an dem ich maßgeblich mitwirken durfte. Die Idee war einfach, aber wirkungsvoll: eine nationale Plattform für digitale radiologische Lehre, die Ressourcen bündelt und qualitativ hochwertige Inhalte allen Fakultäten zugänglich macht.
Die Umsetzung verlangte eine enorme Kraftanstrengung. In kürzester Zeit mussten Inhalte produziert, eine technische Infrastruktur geschaffen und didaktische Konzepte entwickelt werden. Doch der Erfolg gab uns recht: CoRad19 erreichte tausende Studierende und wurde mit dem Wachsmann-Preis ausgezeichnet.
Was dieses Projekt so besonders machte, war nicht nur die technische Umsetzung, sondern der konzeptionelle Ansatz:
Fallbasiertes Lernen statt reiner Wissensvermittlung
Interaktive Elemente zur aktiven Einbindung der Studierenden
Klare Lernziele und systematischer Aufbau
Multimediale Aufbereitung mit Videos, Texten und interaktiven Grafiken
Jederzeit verfügbare Ressourcen für selbstgesteuertes Lernen
Damit setzte CoRad19 genau die Prinzipien um, die sich schon im Kölner Modell bewährt hatten – nun aber für ein nationales Publikum und unter dem Druck einer globalen Krise.
"Die Pandemie war nicht der Auslöser digitaler Innovation in der Radiologie-Lehre – aber sie war der Katalysator, der vorhandene Ideen in die Breite trug."
Die überraschenden Erkenntnisse
Als die ersten Evaluationen und Nutzungsdaten von CoRad19 und ähnlichen Projekten eintrafen, zeichneten sich einige überraschende Erkenntnisse ab:
Studierende lernten nicht weniger, sondern anders
Die Prüfungsergebnisse blieben stabil oder verbesserten sich sogar – trotz fehlender Präsenzlehre.
Die zeitliche Flexibilität wurde begeistert angenommen
Studierende schätzten die Möglichkeit, im eigenen Tempo und zu selbstgewählten Zeiten zu lernen.
Die Partizipation wurde demokratischer
Auch zurückhaltende Studierende beteiligten sich aktiver an digitalen Formaten als in großen Hörsälen.
Unterschiedliche Lerntypen konnten besser bedient werden
Die Kombination aus Text, Video, interaktiven Elementen und Selbsttests sprach verschiedene Lernpräferenzen an.
Inklusion wurde gefördert
Studierende mit Betreuungspflichten, Nebenjobs oder gesundheitlichen Einschränkungen konnten plötzlich vollwertiger teilnehmen.
Besonders der letzte Punkt lässt mich bis heute nicht los. Eine Studierende schrieb mir: "Als alleinerziehende Mutter war das Medizinstudium vor Corona ein ständiger Kampf gegen Versäumnisse und schlechtes Gewissen. Die digitalen Formate haben mir zum ersten Mal das Gefühl gegeben, wirklich dazuzugehören."
Die Rückwärtsbewegung
Und dann kam die große Ernüchterung. Mit dem Abklingen der akuten Pandemiesituation begann an vielen Fakultäten eine erstaunliche Rückwärtsbewegung. Als hätte es die letzten zwei Jahre nie gegeben, kehrte man zur "guten alten" Präsenzlehre zurück.
Vorlesungen füllten wieder die Hörsäle. Digitale Angebote wurden zurückgefahren oder ganz eingestellt. Das mühsam aufgebaute Know-how für digitale Lehre drohte zu verkümmern.
Die Begründungen waren vielfältig:
"Medizin lernt man am Patienten, nicht am Bildschirm."
"Die Studierenden brauchen den sozialen Kontakt."
"In Präsenz können wir die Anwesenheit besser kontrollieren."
"Die technische Infrastruktur ist zu aufwendig und teuer."
Keine dieser Begründungen ist grundsätzlich falsch. Aber sie alle verkennen das eigentliche Potenzial digitaler Lehre: Nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung. Nicht als notwendiges Übel, sondern als didaktische Chance.
Das Problem der falschen Dichotomie
Der fundamentale Denkfehler in dieser Debatte ist die Vorstellung einer strikten Dichotomie: digital ODER präsent. Diese Entweder-Oder-Mentalität verkennt, dass die wirkungsvollsten Lehrkonzepte genau aus der Kombination beider Welten entstehen.
Die Wahrheit ist: Wir brauchen weder eine Rückkehr zur reinen Präsenzlehre noch einen vollständigen Umstieg auf digitale Formate. Was wir brauchen, ist eine durchdachte Integration beider Ansätze in hybriden Konzepten, die das Beste aus beiden Welten vereinen.
In der Radiologie könnte das so aussehen:
Digitale Grundlagenvermittlung mit interaktiven Materialien und Selbsttests
Kleingruppenpraktika für das gemeinsame Erarbeiten komplexer Fälle
Virtuelle Fallkonferenzen für die klinisch-radiologische Integration
Simulationsbasiertes Training für interventionelle Techniken
Asynchrone Lernangebote für maximale zeitliche Flexibilität
Synchrone Diskussionsformate für unmittelbaren Austausch
Ein solches hybrides Konzept berücksichtigt, dass verschiedene Lernziele unterschiedliche Settings erfordern. Die Vermittlung von Faktenwissen funktioniert hervorragend im digitalen Raum. Die Einübung komplexer Fertigkeiten profitiert vom direkten Feedback in Präsenz. Warum also nicht das jeweilige Format nach dem didaktischen Ziel wählen, statt umgekehrt?
Die Frage der Inklusion
Ein Aspekt, der in der Debatte um digitale versus Präsenzlehre oft untergeht, ist die Frage der Inklusion. Die traditionelle Präsenzkultur an Universitäten ist implizit exklusiv. Sie bevorzugt diejenigen, die:
in Uni-Nähe wohnen können (trotz explodierender Mietpreise)
keine oder wenig Betreuungspflichten haben
keine gesundheitlichen Einschränkungen haben
nicht auf Nebenjobs angewiesen sind
dem klassischen Tagesrhythmus folgen können
Digitale oder hybride Konzepte öffnen die medizinische Ausbildung für eine diverse Studierendenschaft. Sie ermöglichen Teilhabe für Menschen, deren Lebensrealität nicht dem traditionellen Bild des vollzeitstudierenden jungen Menschen entspricht.
"Eine inklusive Lehre ist nicht nur eine Frage der Fairness – sie bereichert auch das Fach durch vielfältigere Perspektiven."
Diese Dimension der Inklusion sollte für uns als Mediziner, die Empathie und Patientenorientierung zu ihren Kernwerten zählen, ein gewichtiges Argument sein.
Der Weg nach vorn
Was folgt aus diesen Erkenntnissen für die Zukunft der radiologischen Lehre? Ich sehe fünf zentrale Handlungsempfehlungen:
Die Pandemie-Innovationen bewahren und weiterentwickeln
Die unter Druck entwickelten digitalen Formate verdienen eine Weiterentwicklung in ruhigeren Zeiten.
Hybride Konzepte systematisch ausbauen
Nicht zurück zur reinen Präsenzlehre, sondern vorwärts zu durchdachten Kombinationen aus digital und präsent.
Inklusion als Kernprinzip verankern
Lehrangebote so gestalten, dass sie für eine diverse Studierendenschaft zugänglich sind.
Fakultätsübergreifende Kooperationen stärken
Die Produktion hochwertiger digitaler Inhalte ist ressourcenintensiv – Zusammenarbeit schafft Synergien.
Evidenzbasierte Lehrkonzepte entwickeln
Die Wirksamkeit neuer Formate systematisch evaluieren und die Erkenntnisse in die Weiterentwicklung einfließen lassen.
Der Schlüssel liegt in einer neuen Denkweise: Weg von der reaktiven Notfalldigitalisierung der Pandemie, hin zu einer proaktiven Gestaltung zukunftsfähiger radiologischer Lehre, die digitale und präsente Elemente strategisch kombiniert.
Eine persönliche Vision
Meine Vision für die Post-Pandemie-Lehre in der Radiologie ist keine Rückkehr zum Status quo ante. Sie ist ein mutiger Schritt nach vorn – in eine Landschaft, in der digitale und präsente Formate nicht konkurrieren, sondern koexistieren und sich gegenseitig stärken.
Ich stelle mir eine radiologische Ausbildung vor, die:
zeitlich flexibel ist, ohne beliebig zu werden
örtlich unabhängig ist, ohne die Gemeinschaft zu vernachlässigen
individualisiert ist, ohne standardisierte Lernziele aufzugeben
inklusiv ist, ohne an Qualität einzubüßen
innovativ ist, ohne bewährte Elemente leichtfertig über Bord zu werfen
Dies ist keine utopische Fantasie. Es ist eine realistische Vision, deren Machbarkeit wir während der Pandemie unter Beweis gestellt haben. Jetzt gilt es, diese Erkenntnisse nicht als Notlösung abzutun, sondern als Grundlage für eine fundamental bessere radiologische Lehre zu nutzen.
Die Pandemie hat uns gezwungen, unsere Lehre neu zu denken. Nutzen wir diese Chance, anstatt reflexhaft in alte Muster zurückzufallen. Die Zukunft der radiologischen Lehre – und damit auch die Zukunft unseres Fachs – hängt davon ab.
Im nächsten Teil unserer Serie werde ich die strukturellen Herausforderungen beleuchten, die der radiologischen Lehre durch die neue Approbationsordnung und den Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) drohen – und was wir dagegen tun können.
Über die Autorin: Prof. Dr. med. Bettina Baeßler ist Radiologin, Ärztliche Leiterin der Region Bayern Nord bei Quartz Healthcare Germany, Professorin und Gründerin der LernRad GmbH, einer Online-Lernplattform für die Radiologie. Durch ihre langjährige Tätigkeit in verschiedenen universitären und klinischen Einrichtungen kennt sie die Herausforderungen der radiologischen Lehre aus erster Hand.