Der blinde Fleck: Warum universitäre Abteilungen das Potenzial digitaler Lehre nicht erkennen

Heute widmen wir uns einer zentralen Frage: Warum viele universitäre Abteilungen trotz aller Evidenz das Potenzial digitaler Lehre nicht erkennen oder nutzen.

LEHRE & WEITERBILDUNGZUKUNFT DER RADIOLOGIE

Prof. Dr. med. Bettina Baeßler

4/22/20257 min read

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"Es kostet zu viel."

"Wir haben keine Zeit dafür."

"Das ist doch nur ein vorübergehender Trend."

"Bei uns funktioniert die traditionelle Lehre gut genug."

Diese Aussagen begegnen mir regelmäßig, wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen an radiologischen Universitätskliniken über moderne, digitale Lehrkonzepte spreche. Sie sind symptomatisch für einen blinden Fleck, der die Zukunftsfähigkeit unseres Fachs gefährdet.

Denn während die Evidenz für den Mehrwert digital unterstützter, hybrider Lehrkonzepte überwältigend ist, bleiben viele Abteilungen in traditionellen Strukturen verhaftet. Warum ist das so? Was sind die wahren Ursachen dieser Innovationsresistenz?

Das Geld, das nicht fließen darf

Beginnen wir mit dem häufigsten Argument: "Es kostet zu viel." Auf den ersten Blick erscheint dies plausibel. Digitale Lehrkonzepte erfordern Investitionen – in Technologie, in Produktionszeit, in Expertise.

Doch dieses Argument offenbart bei näherer Betrachtung eine fundamentale Schieflage im universitären System: Lehre an Unikliniken darf nichts kosten, obwohl sie zu den Kernaufgaben einer Universität gehört.

Die bittere Realität, die ich an zahlreichen Universitätskliniken beobachtet habe: Budgets, die offiziell für die Lehre vorgesehen sind, fließen unter der Hand in die Krankenversorgung. Stellenschlüssel, die eigentlich für Lehrtätigkeiten kalkuliert wurden, werden für klinische Aufgaben eingesetzt.

"Was sind schon 5000 Euro im Semester für herausragende Lehre, wenn man bedenkt, dass darin die Zukunft unseres Fachs liegt?"

Diese Frage stelle ich oft meinen Kollegen in Führungspositionen. Die Antworten sind aufschlussreich: Viele haben schlicht nie in dieser Größenordnung über Lehrinvestitionen nachgedacht. Die Vorstellung, ein relevantes Budget für digitale Lehre einzuplanen, erscheint ihnen fast absurd – während gleichzeitig über Millionenbeträge für neue Geräte diskutiert wird.

Diese Diskrepanz offenbart die wahre Prioritätensetzung: Lehre ist ein Nebenprodukt, das gefälligst keine zusätzlichen Ressourcen beanspruchen sollte.

Der Stellenwert der Lehre: Das Nebenher-Dilemma

Diese fehlende Budgetierung ist nur ein Symptom eines tieferliegenden Problems: des mangelnden Stellenwerts der Lehre in der universitären Medizin.

Die typische Situation, die ich an praktisch allen Universitätskliniken beobachtet habe: Lehre wird "nebenher" gemacht. Sie ist ein Anhängsel zum klinischen Alltag, eine Pflichtübung für die Habilitation, aber kein eigenständiger Bereich mit eigener Wertschätzung und strategischer Bedeutung.

Die Konsequenz: Niemand fühlt sich wirklich verantwortlich. Niemand hat wirklich Zeit. Niemand entwickelt echte Expertise in modernen Lehrmethoden. Und niemand hat ein intrinsisches Interesse daran, in diesem Bereich zu innovieren.

Die bittere Ironie: Gerade die Qualifizierungsphase für eine akademische Karriere – die Zeit der Habilitation – ist geprägt von maximaler klinischer und wissenschaftlicher Belastung. Genau dann sollen junge Ärztinnen und Ärzte nebenbei noch exzellente Lehre entwickeln und durchführen? Ein strukturelles Paradox, das zwangsläufig zu Minimalismus führt.

Die Frage, die sich kaum jemand stellt: Was wäre, wenn wir Lehre nicht als lästige Pflicht, sondern als strategische Investition in die Zukunft unseres Fachs betrachten würden? Wenn wir die besten Köpfe explizit dafür gewinnen und freistellten würden, innovative Lehrkonzepte zu entwickeln?

Die fehlende didaktische Vision

Ein weiterer blinder Fleck vieler universitärer Abteilungen ist das Fehlen einer kohärenten didaktischen Vision. Gefragt nach ihrem Lehrkonzept, erhalte ich oft Antworten wie:

"Wir machen das wie immer."

"Jeder Dozent gestaltet seinen Teil nach eigenem Ermessen."

"Wir folgen dem Gegenstandskatalog."

Was hier fehlt, ist nicht nur Innovation, sondern schon das grundlegende Bewusstsein dafür, dass Lehre einer durchdachten, evidenzbasierten Methodik folgen sollte. Dass es einen Unterschied macht, WIE wir lehren, nicht nur WAS.

Die Ursachen für diesen blinden Fleck sind vielfältig:

  1. Mangelnde didaktische Ausbildung

    Ärztinnen und Ärzte werden für klinische Exzellenz ausgebildet, nicht für Lehrkompetenz. Didaktik-Kurse werden als lästige Pflichtaufgabe für die Habilitation empfunden und “abgesessen”.

  2. Fehlende Feedbackmechanismen

    Evaluationen werden zwar durchgeführt (”muss man halt machen”), aber selten für systematische Verbesserungen genutzt.

  3. Keine Vernetzung mit Lehrexperten

    Der Austausch mit Bildungswissenschaftlern und Didaktikspezialisten ist selten.

  4. Geringe Wertschätzung für Lehrinnovation

    Exzellente Lehre wird in akademischen Karrieren deutlich weniger honoriert als Forschung.

Diese Faktoren führen zu einem Teufelskreis: Ohne didaktische Vision keine Innovation, ohne Innovation keine Begeisterung, ohne Begeisterung kein Engagement, ohne Engagement keine Qualität – und so weiter.

Das "funktioniert doch"-Syndrom

"Bei uns funktioniert die traditionelle Lehre gut genug." Diese Aussage höre ich oft, wenn ich über digitale Innovation spreche. Sie offenbart ein gefährliches Selbstverständnis: Solange niemand aktiv protestiert, muss es ja in Ordnung sein.

Doch was heißt hier "funktionieren"? Dass Studierende die Prüfungen bestehen? Dass die formalen Anforderungen erfüllt werden? Dass keine offenen Beschwerden vorliegen?

Diese niedrige Messlatte verdeutlicht das Problem: Viele Abteilungen streben nicht nach Exzellenz in der Lehre, sondern nach Effizienz im Sinne minimalen Aufwands bei gerade noch akzeptablen Ergebnissen.

Was dabei übersehen wird:

  • Die vertanen Chancen, Studierende für unser Fach zu begeistern

  • Die verpasste Möglichkeit, sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren

  • Die nicht genutzten Potenziale digitaler Lehre für bessere Lernergebnisse

  • Die langfristigen Konsequenzen für den Nachwuchs im Fach

Wenn "gut genug" der Standard ist, kann Exzellenz niemals erreicht werden. Und in einem zunehmend kompetitiven Umfeld, in dem die Radiologie um ihre Sichtbarkeit und ihren Nachwuchs kämpft, ist "gut genug" definitiv nicht gut genug.

Die digitale Kluft in einem digitalen Fach

Die vielleicht größte Ironie in dieser Diskussion ist die Tatsache, dass ausgerechnet die Radiologie – ein durch und durch digitales Fach in der klinischen Praxis – in der Lehre oft an analogen, prädigitalen Methoden festhält.

Wir arbeiten tagtäglich mit hochkomplexen digitalen Systemen, mit KI-gestützter Bildanalyse, mit globaler digitaler Vernetzung. Aber wenn es um die Lehre geht, fallen wir zurück auf PowerPoint-Folien und Frontalunterricht.

Diese Diskrepanz zwischen klinischer Digitalität und didaktischer Analogität ist mehr als nur inkonsequent – sie ist ein Versäumnis, den Studierenden einen authentischen Einblick in die radiologische Praxis zu geben.

Denn wie sollen Studierende die Faszination moderner Bildgebung erleben, wenn sie diese nur statisch, losgelöst vom klinischen Kontext und ohne interaktive Exploration präsentiert bekommen?

"Ein Fach, das in der Praxis digital funktioniert, aber in der Lehre analog denkt, kann seine eigene Zukunft nicht gestalten."

Die Mythen der digitalen Lehre

Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung gegenüber digitaler Lehre sind hartnäckige Mythen, die sich in vielen Abteilungen halten:

Mythos 1: "Digitale Lehre bedeutet Kontrollverlust."

Viele Lehrende fürchten, dass digitale Formate zu reduzierter Anwesenheit und verminderte Lehrqualität führen. Die Evidenz zeigt das Gegenteil: Gut konzipierte (!) digitale Elemente steigern Engagement und Lernerfolg.

Mythos 2: "Digitale Lehre ist unpersönlich."

Die Vorstellung, digitale Lehre bedeute automatisch weniger persönlichen Kontakt, verkennt das Potenzial hybrider Konzepte. Gerade die Kombination aus asynchronen digitalen Elementen und intensiver persönlicher Interaktion in Kleingruppen ermöglicht mehr individuelle Betreuung.

Mythos 3: "Digitale Lehre ist ein vorübergehender Trend."

Die Pandemie hat digitale Lehre ins Rampenlicht gerückt, aber die zugrundeliegenden didaktischen Prinzipien und technologischen Möglichkeiten sind keine Modeerscheinung. Sie repräsentieren eine fundamentale Evolution des Lehrens und Lernens.

Mythos 4: "Man braucht spezielle technische Expertise."

Moderne Plattformen und Tools sind zunehmend nutzerfreundlich gestaltet. Die eigentliche Herausforderung liegt nicht in der Technik, sondern im didaktischen Konzept. Darüber hinaus gibt es inzwischen gute Anbieter hochqualitativer digitaler Lehrformate (die Werbung in eigener Sache darf an diesem Punkt erlaubt sein: die LernRad GmbH ist einer davon…), die das universitäre Angebot sinnvoll ergänzen können.

Mythos 5: "Die Studierenden bevorzugen traditionelle Formate."

Die Evaluationsdaten sprechen eine eindeutige Sprache: Studierende bevorzugen mehrheitlich hybride Konzepte, die Flexibilität mit persönlichem Austausch verbinden. Was sie ablehnen, sind nicht digitale Elemente, sondern schlecht gemachte digitale Elemente.

Die Beharrlichkeit dieser Mythen zeigt, wie wichtig eine evidenzbasierte Diskussion über die tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen digitaler Lehre ist. Nicht blinde Digitalisierung um jeden Preis, sondern durchdachte Integration digitaler Elemente in ein kohärentes Gesamtkonzept sollte das Ziel sein.

Erfolgsbeispiele: Es geht doch!

Trotz aller strukturellen Hürden gibt es beeindruckende Beispiele für gelungene digitale Innovation in der radiologischen Lehre. Diese Erfolgsgeschichten haben gemeinsame Muster:

  1. Visionäre Führung

    Ein klares Bekenntnis der Abteilungsleitung zur Priorität exzellenter Lehre.

  2. Dedizierte Ressourcen

    Explizit zugewiesene Zeit- und Finanzbudgets für Lehrinnovation.

  3. Interdisziplinäre Zusammenarbeit

    Kooperation mit Didaktikexperten, Mediendesignern, Informatikern.

  4. Evidenzbasierter Ansatz

    Systematische Evaluation und kontinuierliche Anpassung.

  5. Langfristige Perspektive

    Bereitschaft, in Vorleistung zu gehen für nachhaltige Qualitätsverbesserung.

Diese Beispiele zeigen: Es ist möglich, den blinden Fleck zu überwinden – wenn der Wille und das Bewusstsein für die strategische Bedeutung exzellenter Lehre vorhanden sind.

Der Weg zur Veränderung

Wie können wir als radiologische Community diesen blinden Fleck überwinden? Ich sehe mehrere konkrete Ansatzpunkte:

  1. Bewusstseinsbildung

    Die strategische Bedeutung exzellenter Lehre für die Zukunft des Fachs muss in den Fokus rücken – durch Newsletter wie diesen hier, Social Media Beiträge, Publikationen, Kongressbeiträge, Fortbildungen.

  2. Strukturelle Anreize

    Lehrinnovation und -exzellenz sollten stärker in akademischen Karrierewegen und Leistungsbewertungen verankert werden.

  3. Ressourcenumwidmung

    Ein fester Prozentsatz des Abteilungsbudgets sollte verbindlich für Lehrinnovation reserviert sein.

  4. Zentren für radiologische Lehrexzellenz

    Spezialisierte Kompetenzzentren könnten Expertise bündeln und anderen Abteilungen zur Verfügung stellen.

  5. Kooperationsmodelle

    Nicht jede Abteilung muss alles selbst entwickeln – Ressourcensharing und gemeinsame Plattformen können Synergien schaffen.

Besonders der letzte Punkt scheint mir vielversprechend: Durch fakultätsübergreifende Kooperation könnten Ressourcen gebündelt und Expertisen geteilt werden. Plattformen wie ConRad (die digitale Lernplattform der Deutschen Röntgengesellschaft) haben gezeigt, dass solche Modelle funktionieren können.

Ein konkreter Vorschlag

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Eine radiologische Universitätsabteilung investiert 3000 Euro pro Semester in den Zugang zu einer hochwertigen digitalen Lernplattform – mit interaktiven Fällen, strukturierten Lernpfaden und kontinuierlicher Aktualisierung.

Diese Plattform deckt viele Grundlagen des Fachs ab und ermöglicht den Studierenden selbstgesteuertes Lernen. Die lokalen Lehrenden werden dadurch nicht ersetzt, sondern können sich auf die klinische Integration, auf spezielle Schwerpunkte ihrer Abteilung und auf intensive Kleingruppendiskussionen konzentrieren.

Die Vorteile wären vielfältig:

  • Entlastung der Lehrenden von repetitiven Grundlagenthemen

  • Konsistente Qualität der Basisinhalte

  • Mehr Raum für die Profilierung lokaler Stärken und Schwerpunkte

  • Bessere Lernergebnisse durch multimodales Lernen

  • Erhöhte Attraktivität des Fachs für Studierende

Ein solches Modell erfordert weder eine Revolution des gesamten Lehrbetriebs noch eine komplette Neuausrichtung der Abteilung. Es ist ein pragmatischer Schritt, der mit überschaubarem Aufwand einen signifikanten Mehrwert schaffen kann.

Ein persönliches Fazit

Als ich vor Jahren begann, mich intensiv mit digitaler Lehrinnovation zu beschäftigen, war ich oft frustriert über die Trägheit des Systems und den blinden Fleck vieler Kolleginnen und Kollegen. Heute sehe ich klarer, dass die Ursachen weniger in individuellem Unwillen als in strukturellen Faktoren liegen.

Dies macht die Herausforderung nicht kleiner, aber es verändert den Ansatz: Statt Einzelpersonen zu überzeugen, müssen wir systemische Veränderungen anstoßen. Wir müssen die Wertigkeit der Lehre im universitären System neu definieren und die strukturellen Anreize so gestalten, dass Innovation belohnt wird.

Dies ist keine Aufgabe für Einzelkämpfer, sondern eine gemeinsame Mission für alle, denen die Zukunft unseres Fachs am Herzen liegt. Der blinde Fleck kann überwunden werden – aber nur, wenn wir ihn gemeinsam ins Blickfeld rücken.

"Die größte Ressource der radiologischen Lehre ist nicht Geld oder Technologie – es ist der Wille, unseren Studierenden die bestmögliche Ausbildung zu bieten."

Denn letztlich geht es bei dieser Diskussion nicht um Technologie oder Didaktik um ihrer selbst willen. Es geht um die fundamentale Frage, wie wir die nächste Generation von Radiologinnen und Radiologen ausbilden wollen – und damit auch, wie die Zukunft unseres Fachs aussehen wird.

Im nächsten Teil geht es um konkrete Lernmethoden und didaktische Konzepte: Wie aktives Lernen und fallbasierte Ansätze die radiologische Ausbildung revolutionieren können.

Über die Autorin: Prof. Dr. med. Bettina Baeßler ist Radiologin, Ärztliche Leiterin der Region Bayern Nord bei Quartz Healthcare Germany, Professorin und Gründerin der LernRad GmbH, einer Online-Lernplattform für die Radiologie. Durch ihre langjährige Tätigkeit in verschiedenen universitären und klinischen Einrichtungen kennt sie die Herausforderungen der radiologischen Lehre aus erster Hand.