Aktives Lernen statt passiver Konsum: Die Zukunft der radiologischen Lehre

Heute geht es um einen grundlegenden Paradigmenwechsel: Warum aktives Lernen die Radiologie-Ausbildung revolutionieren kann und muss.

LEHRE & WEITERBILDUNGZUKUNFT DER RADIOLOGIE

Prof. Dr. med. Bettina Baeßler

4/29/20258 min read

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"Können Sie den Befund dieser Röntgen Thorax-Aufnahme erklären?"

Mit dieser Frage konfrontierte ich kürzlich eine Gruppe von PJ-Studierenden. Die Reaktionen waren aufschlussreich: Blasse Gesichter, nervöses Schweigen, unsicherer Blickaustausch. Nicht etwa, weil die Pathologie besonders komplex war – es handelte sich um einen deutlich sichtbaren Pneumothorax – sondern weil die meisten noch nie zuvor aktiv einen radiologischen Befund formulieren mussten.

"Aber wir hatten doch Radiologie im Studium", protestierte eine Studentin schließlich. Auf Nachfrage stellte sich heraus: "Radiologie im Studium" bedeutete für sie: PowerPoint-Präsentationen mit schönen Beispielbildern, einige Grundlagen der Strahlenphysik und gelegentliche "Aha-Erlebnisse", wenn ein Dozent auf offensichtliche Pathologien zeigte.

Was fehlte? Die aktive Auseinandersetzung mit dem radiologischen Bild. Das systematische Beschreiben. Das eigenständige Befunden (bei einfachen Befunden). Kurz: Das aktive Lernen.

Der fundamentale Fehler traditioneller Lehre

Die traditionelle radiologische Lehre folgt häufig einem passiven Modell: Studierende konsumieren Inhalte, die ihnen präsentiert werden. Sie sehen fertige Befunde, hören Erklärungen, betrachten markierte Pathologien.

In diesem Modell sind Studierende Zuschauer, nicht Akteure. Sie erleben Radiologie als Präsentation, nicht als Aktivität. Und genau hier liegt der fundamentale Fehler: Denn Radiologie ist keine Zuschauersportart – sie ist eine aktive, kognitive, Fertigkeit.

Die Konsequenz dieses Fehlers erlebe ich immer wieder in meinem Lehralltag: Studierende, die theoretisch viel über Radiologie wissen, aber vor dem leeren Befunddokument wie gelähmt sind. Die Pathologien erkennen können, wenn man sie ihnen zeigt, aber nicht, wenn sie selbst suchen müssen. Die radiologische Terminologie kennen, aber nicht anwenden können.

"Das Wissen über Radiologie ist nicht dasselbe wie die Fähigkeit zum radiologischen Denken und Handeln."

Dieser Unterschied ist entscheidend – und er kann nur durch aktives Lernen überbrückt werden.

Was ist aktives Lernen in der Radiologie?

Aktives Lernen in der Radiologie bedeutet, die Studierenden vom passiven Konsumenten zum aktiven Teilnehmer zu machen. Konkret heißt das:

  1. Selbständiges Beschreiben vor dem Interpretieren

    Studierende müssen lernen, systematisch zu beschreiben, was sie sehen – bevor sie es diagnostisch einordnen. Eine Kunst, die übrigens auch in der radiologischen Weiterbildung viel zu kurz kommt.

  2. Eigene Befundformulierung

    Die Kunst des präzisen, strukturierten radiologischen Befundens muss geübt werden – auch wenn die ersten Versuche holprig sind.

  3. Interaktive Fallarbeit

    Studierende sollten an realen Fällen arbeiten, mit der Möglichkeit, verschiedene Sequenzen und Schnittebenen selbst zu explorieren.

  4. Fehleranalyse und Korrektur

    Das Verständnis eigener Fehler und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur sind zentrale Lernschritte.

  5. Peer-to-Peer-Diskussion

    Der Austausch über Bilder und Befunde mit Kommilitonen fördert die Verbalisierung des Denkprozesses.

Diese aktiven Lernformen erfordern zunächst mehr Zeit und Aufwand als passive Präsentationen. Aber sie führen zu tieferem Verständnis, besserer Retention und – entscheidend – zur Entwicklung echter radiologischer Kompetenzen statt bloßem Faktenwissen.

Die Evidenz für aktives Lernen

Die Überlegenheit aktiver Lernmethoden ist nicht nur meine persönliche didaktische Vermutung, sondern wissenschaftlich gut belegt. Zahlreiche Studien aus der medizinischen Ausbildungsforschung zeigen:

  • Aktives Lernen führt zu besserer Langzeitretention des Wissens

  • Aktive Methoden fördern kritisches Denken und klinische Urteilsfähigkeit

  • Die Transfer-Leistung von theoretischem Wissen in praktische Anwendung steigt

  • Die Motivation und Selbstwirksamkeit der Lernenden nimmt zu

  • Die Fähigkeit zum selbstgesteuerten lebenslangen Lernen wird gestärkt

Für die Radiologie sind diese Vorteile besonders relevant, da unser Fach sowohl fundiertes theoretisches Wissen als auch praktische Anwendungsfähigkeit erfordert. Die typische Diskrepanz zwischen "Ich kenne die Kriterien einer Pneumonie im Röntgenbild" und "Ich kann eine beginnende Pneumonie im Röntgenbild erkennen und diesen Bildbefund präzise beschreiben" illustriert genau das Problem, das aktives Lernen adressiert.

Digitale Werkzeuge für aktives Lernen

Ein häufiger Einwand gegen aktive Lernformen in der Radiologie ist der scheinbar höhere Ressourcenbedarf. Wie soll man 200 Studierenden individuelles Feedback zu ihren Befundungsversuchen geben?

Hier kommen digitale Werkzeuge ins Spiel, die aktives Lernen skalierbar machen. Moderne Lernplattformen für die Radiologie (wie unsere LernRad Plattform) bieten Funktionen wie:

  • Interaktive Befundungsumgebungen

    Studierende können in einem PACS-ähnlichen System eigenständig befunden, Messungen vornehmen und Schlussfolgerungen ziehen.

  • Strukturierte Feedback-Systeme

    Automatisierte erste Rückmeldungen werden mit Experten-Feedback kombiniert.

  • Progressive Schwierigkeitsgrade

    Vom eindeutigen Befund mit klarer Pathologie bis hin zu subtilen Veränderungen und Normalvarianten.

  • Kollaborative Elemente

    Gemeinsame Fallbesprechungen, Peer-Review und Diskussionsforen.

  • Selbstüberprüfungswerkzeuge

    Studierende können ihren Fortschritt überwachen und gezielt an Schwächen arbeiten.

Diese digitalen Werkzeuge machen aktives Lernen nicht nur für große Gruppen praktikabel, sondern erweitern dessen Möglichkeiten erheblich. Sie bilden zudem die digitale Realität des radiologischen Arbeitsalltags authentischer ab als traditionelle Lehrmethoden.

Von der Theorie zur klinischen Anwendung

Ein weiterer entscheidender Vorteil aktiver Lernkonzepte ist die natürliche Brücke, die sie zwischen theoretischem Wissen und klinischer Anwendung schlagen. Durch die Arbeit an realen Fällen mit vollständigen klinischen Informationen lernen Studierende von Anfang an, Radiologie nicht isoliert, sondern im klinischen Kontext zu verstehen.

Diese Integration ist essentiell, denn sie verdeutlicht den Wert der Radiologie als klinisches Fach – und nicht nur als technische Disziplin. Studierende müssen verstehen, dass Radiologie nicht mit dem Erkennen einer Pathologie endet, sondern mit ihrer klinischen Einordnung beginnt.

Konkrete Umsetzungsmöglichkeiten sind:

  • Fallbasiertes Lernen mit vollständiger Patientengeschichte

  • Interdisziplinäre Fallkonferenzen, in denen Studierende aktiv mitwirken

  • Simulation radiologischer Konsile mit Schauspielpatienten oder Kollegen

  • Follow-up-Diskussionen, die den weiteren klinischen Verlauf nach der Bildgebung verfolgen

Diese Ansätze lösen die Radiologie aus ihrer isolierten Position und verankern sie dort, wo sie hingehört: im Zentrum des klinischen Entscheidungsprozesses.

Die Befundungsumgebung als Lerninstrument

Ein besonders wirksames Instrument des aktiven Lernens in der Radiologie ist die simulative Befundungsumgebung – ein Setting, das den radiologischen Arbeitsplatz nachbildet und Studierenden die Möglichkeit gibt, den gesamten Befundungsprozess durchzuführen.

Anders als bei passiven Demonstrationen müssen Studierende hier selbst aktiv werden:

  • Das Bild systematisch durchmustern

  • Normalbefunde von Pathologien unterscheiden

  • Messungen und Rekonstruktionen vornehmen

  • Einen strukturierten Befund formulieren

  • Differentialdiagnostische Überlegungen anstellen

  • Empfehlungen für das weitere Vorgehen aussprechen

Diese ganzheitliche Aktivität repräsentiert radiologisches Arbeiten authentischer als jede noch so elegante Präsentation. Sie macht zudem eines deutlich: Radiologische Befundung ist keine passive Betrachtung, sondern aktive Problemlösung.

Auf der LernRad-Plattform (www.lernrad.com) haben wir genau solche simulativen Befundungsumgebungen entwickelt – mit beeindruckenden Ergebnissen. Studierende berichten nicht nur von höherem Lernzuwachs, sondern auch von gesteigertem Interesse an der Radiologie als Fach. Ein Studierender formulierte es so: "Zum ersten Mal habe ich verstanden, dass Radiologie mehr ist als Bilder anschauen – es ist aktives Denken und Entscheiden. Hier habe ich mehr gelernt, als in meinem ganzen PJ."

Der Unterschied in der Praxis

Was bedeutet dieser Unterschied zwischen aktivem und passivem Lernen konkret für die Praxis? Ein Beispiel aus meinem Lehralltag:

Traditionelles Szenario:

Studierende sehen in einer Vorlesung 50 Beispielbilder verschiedener Pathologien. Sie hören Erklärungen, sehen Pfeile und Kreise, die auf die relevanten Befunde zeigen. Im Moment wirkt alles logisch und einleuchtend. Zwei Wochen später erinnern sie sich an einzelne eindrucksvolle Bilder, aber die systematische Befundung fällt ihnen schwer.

Aktives Lernszenario:

Studierende erhalten 10 Fälle zur selbständigen Bearbeitung. Sie müssen jeden Fall systematisch durcharbeiten, einen strukturierten Befund formulieren und ihre Differentialdiagnose begründen. Sie erhalten detailliertes Feedback, diskutieren schwierige Aspekte mit Kommilitonen und reflektieren ihre Fehler. Zwei Wochen später können sie nicht nur die spezifischen Pathologien wiedererkennen, sondern haben ein methodisches Gerüst für die Herangehensweise an neue Fälle entwickelt.

Der Unterschied ist frappierend: Im ersten Szenario lernen Studierende ÜBER Radiologie. Im zweiten Szenario lernen sie, radiologisch zu DENKEN und zu HANDELN.

"Wir müssen aufhören, Studierende über Radiologie zu informieren – und anfangen, sie zu Radiologen auszubilden."

Erfolgsgeschichten und Feedback

Die Wirksamkeit aktiver Lernkonzepte zeigt sich besonders eindrucksvoll in den Rückmeldungen der Studierenden. Auf unserer LernRad-Plattform hören wir immer wieder Aussagen wie:

"Ich habe in einem Kurs mit 40 interaktiven Fällen mehr über Thorax-Radiologie gelernt als in meinem gesamten Studium."

"Zum ersten Mal fühle ich mich nicht mehr hilflos, wenn ich ein Röntgenbild sehe."

"Die Möglichkeit, Fehler zu machen und daraus zu lernen, ohne einen Patienten zu gefährden, ist unglaublich wertvoll."

Besonders beeindruckend sind die Fortschritte, die sich innerhalb kurzer Zeit zeigen. Studierende, die zu Beginn eines Kurses kaum in der Lage waren, ein Röntgenbild systematisch zu beschreiben, können nach intensiver aktiver Lernphase strukturierte, präzise Befunde formulieren und relevante von irrelevanten Befunden unterscheiden.

Diese Lernfortschritte sind nicht nur für die Studierenden motivierend, sondern auch für uns als Lehrende. Sie zeigen, dass radiologische Kompetenz keine mysteriöse Begabung ist, sondern eine erlernbare Fertigkeit – wenn sie richtig vermittelt wird.

Die Herausforderungen der Implementierung

Trotz der überzeugenden Evidenz und positiven Erfahrungen stößt die Implementierung aktiver Lernkonzepte in der radiologischen Lehre auf Herausforderungen:

  1. Zeitaufwand

    Aktives Lernen erfordert zunächst mehr Zeit – sowohl in der Vorbereitung als auch in der Durchführung.

  2. Technische Infrastruktur

    Für digitale aktive Lernumgebungen ist eine entsprechende technische Basis notwendig.

  3. Kompetenz der Lehrenden

    Die Begleitung aktiver Lernprozesse erfordert andere didaktische Fähigkeiten als klassische Vorlesungen.

  4. Widerstände im System

    Etablierte Strukturen und traditionelle Vorstellungen von universitärer Lehre können Innovationen erschweren.

  5. Quantitätsdruck

    Der Druck, große Stoffmengen zu vermitteln, verführt zu scheinbar effizienteren passiven Formaten.

Diese Herausforderungen sind real, aber überwindbar. Der Schlüssel liegt in einer schrittweisen Transformation, die aktive Elemente zunächst ergänzend einführt und dann sukzessive ausbaut. Nicht jede Lehrveranstaltung muss sofort komplett umgestellt werden – schon kleine Interventionen können große Wirkung entfalten.

Praktische Implementierungsschritte

Wie kann eine radiologische Abteilung den Weg zum aktiven Lernen konkret gestalten? Hier einige pragmatische Schritte:

  1. "Low-Hanging Fruits" identifizieren

    Bestehende Lehrformate analysieren und einfach zu implementierende aktive Elemente identifizieren (z.B. interaktive Quizfragen mit spezifisch auf die Radiologie zugeschnittenen Umfrage-Tools in Vorlesungen).

  2. Pilotprojekte starten

    Mit einer überschaubaren Gruppe (z.B. einem Wahlfach) beginnen und Erfahrungen sammeln.

  3. Digitale Werkzeuge evaluieren

    Vorhandene Plattformen und Tools sichten und auf Eignung für die spezifischen Bedürfnisse prüfen.

  4. Lehrende schulen

    Didaktische Fortbildungen zum Thema aktives Lernen anbieten und Peer-Learning unter Lehrenden fördern.

  5. Feedback systematisch einholen

    Studierendenfeedback gezielt zu aktiven Lernelementen erfassen und für kontinuierliche Verbesserung nutzen.

  6. Erfolge sichtbar machen

    Positive Ergebnisse dokumentieren und innerhalb der Abteilung wie auch nach außen kommunizieren.

  7. Kooperationen suchen

    Mit anderen Abteilungen, Fakultäten oder professionellen Anbietern wie der LernRad GmbH zusammenarbeiten, um Ressourcen zu bündeln und voneinander zu lernen.

Diese schrittweise Vorgehensweise ermöglicht eine nachhaltige Transformation ohne Überforderung des Systems. Sie berücksichtigt zudem, dass Kulturwandel Zeit braucht und am besten durch positive Erfahrungen vorangetrieben wird.

Eine persönliche Vision

Meine Vision für die Zukunft der radiologischen Lehre ist eine, in der aktives Lernen nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Eine Zukunft, in der:

  • Studierende von Anfang an lernen, radiologisch zu denken, nicht nur über Radiologie zu wissen

  • Digitale Werkzeuge die authentische radiologische Praxis simulieren und skalierbare aktive Lernszenarien ermöglichen

  • Die klinische Relevanz und integrative Funktion der Radiologie im Mittelpunkt steht

  • Lehrende sich als Lernbegleiter verstehen, nicht nur als Wissensvermittler

  • Die Begeisterung für unser Fach durch aktives Erleben seiner Faszination entfacht wird

Diese Vision ist keine Utopie. Mit den heute verfügbaren technischen Möglichkeiten, den evidenzbasierten didaktischen Konzepten und dem wachsenden Bewusstsein für die Bedeutung exzellenter Lehre ist sie realistischer denn je.

Was fehlt, ist oft nur der Mut zum ersten Schritt – und das Bewusstsein, dass die Zukunft unseres Fachs nicht nur in technologischen Innovationen liegt, sondern auch in der Art, wie wir die nächste Generation von Radiologinnen und Radiologen ausbilden.

"Wenn wir wollen, dass Studierende radiologisch denken und handeln können, müssen wir sie radiologisch denken und handeln lassen."

Dieses simple Prinzip – Studierende aktiv in den radiologischen Prozess einzubeziehen statt sie nur darüber zu informieren – hat das Potenzial, die radiologische Lehre zu revolutionieren. Und damit letztlich auch die Zukunft unseres Fachs zu sichern.

Im nächsten Teil unserer Serie geht es um die Frage, wie externe Lernplattformen und lokale Lehrambitionen nicht in Konkurrenz stehen müssen, sondern sich gegenseitig bereichern können – ein Thema von besonderer Relevanz für habilitierende Ärztinnen und Ärzte.

Über die Autorin: Prof. Dr. med. Bettina Baeßler ist Radiologin, Ärztliche Leiterin der Region Bayern Nord bei Quartz Healthcare Germany, Professorin und Gründerin der LernRad GmbH, einer Online-Lernplattform für die Radiologie. Durch ihre langjährige Tätigkeit in verschiedenen universitären und klinischen Einrichtungen kennt sie die Herausforderungen der radiologischen Lehre aus erster Hand.